Sydney, 19. Juni um 17:30 in einer Hafenkneipe in der Gegend der Harbour Bridge
Neben mir am anderen Tisch sitzt ein Engländer mit seiner australischen Frau. Sie wohnen beide seit Jahren um die Ecke. Der Mann war in der Mitte des 20. Jahrhunderts Truckerfahrer in Mitteleuropa. Er hatte Ausstellungsgegenstände von Ort zu Ort zu fahren. Gerade zur Zeit der russischen Invasion in die Tschechoslowakei 1968 war er in diesem Land und wurde für einen Monat zusammen mit seinem Ausstellungsteam von den Russen festgehalten! Verrückt, welche Leute man hier trifft! Und verrückt, welche Filme das australische Fernsehen hier zeigt, z.B. heute den slowakischen Spielfilm “Záhroda” mit dem Schauspieler Labuda. Den müssen wir aber heute wohl auslassen, denn wir gehen in die Oper (“Lady Macbeth von Mzensk” von Schostakowitsch), 17 Euro für einen Stehplatz. Ja genau, wir befinden uns heute Abend stehenderweise für 3 Stunden in einem der neueren Weltwunder, und ich muss eingestehen, dass dieses Bauwerk eines der schönsten ist, das ich je gesehen habe und dieses schon alleine Sydney zu einer gleichberechtigten Stadt mit Melbourne macht. Eine fantastische Konstruktion, die wir bei einer Führung durch die Oper näher bewundern durften. Eigentlich wäre der Name Kulturkomplex passender, denn neben dem Operntheater befinden sich noch ein großer Konzertsaal, drei Theatersäle, ein Kino sowie ein Gourmet Restaurant in dem Gebäude. Doch nun zur Architektur.
Wenn man sich von der Stadtmitte her der Landzunge nähert, auf der sich an der besten Stelle Sydneys die Oper befindet, dann grüßen schon von weitem das an Segel oder Zelte erinnernde mehrgliedrige Dach. Diese Assoziationen sind zulässig, wie uns der Führer versichert, wollte doch der dänische Architekt Jörn Utzon mit der Dachkonstruktion an die Anfänge der ersten englischen Besiedelung Australiens 1788 erinnern. Man erklimmt zahlreiche Stufen auf einem breiten Vorplatz und steht dann von den in beigem Weiß schimmernden Dächern. Erst jetzt bemerke ich, dass das Bauwerk aus drei Komplexen besteht, dem kleineren Restaurant, das den beiden anderen beiden gleichgroßen und identisch aussehenden Gebäuden etwas vorgelagert ist. In beiden letzteren befindet sich je der Konzertsaal, in den wir kurz einen Blick während der Führung werfen konnte, als gerade das Sinfonieorchester von Sydney ein Tschaikowskywerk probte – übrigens brillante Akustik, von deutschen Ingenieuren geschaffen und unter den fünf besten der Welt rangierend! – und das Operntheater. Aber welch eine Überraschung für uns, als wir in dessen Zuschauerraum dem Vortrag des Führers lauschend sitzen: Die Bühne ist doch viel zu winzig für eine Opernaufführung und das Orchester sitzt vollständig unter der Bühne! Völlige Fehlkonstruktion! Unser erzählender Fachmann nennt es sogar einen Albtraum. Seine Erklärung zur Baugeschichte hellen das Rätsel auf:
1959, nachdem Utzon den internationalen Designwettbewerb gewonnen hatte, wurde mit dem Bau begonnen. Zuerst der Unterbau, in dem sich die drei kleineren Theater sowie die gesamte für den Theaterbetrieb notwendige Infrastruktur befindet; dann als zweite Stufe die atemberaubende Dachkonstruktion, also die sichtbaren und weltbekannten weißen Segel, die zur damaligen Zeit eine Weltklasseleistung auf dem Ingenieurgebiet darstellten. Als 1966 das Dach, innen vollständig hohl, stand, war bereits das veranschlagte Baubudget enorm überschritten und die damalige Regierung Australiens, erst vor kurzem durch das populistische Versprechen, die Baukosten rapide zu senken, ins Amt gewählt (der Bau war in der Bevölkerung höchst umstritten.), beschnitt drastisch die Baufinanzierung. Der entsetzte Utzon legte sofort die Bauleitung nieder. Seine Proteste verhallten ungehört. Er verließ höchst beleidigt Australien und kehrte bis zum heutigen Tag (er lebt noch mit 83 Jahren) nicht mehr zurück. Die Planungen zum Innenausbau übernahm ein Konsortium australischer Architekten. Ergebnis: Bauende 1973, Gesamtkosten das dreizehnfache der von Utzon veranschlagten Summe, innerhalb der weißen Dachsegel befindet sich jeweils eine völlig eigenständige Architektur, die in keiner Weise mit dem genialen Entwurf Utzons verschmelzt, und – das peinlichste – eine kaum funktionierende und mehr als unpraktische Opernbühne!!
Aber Sydney besitzt noch weitere kuriose Geschichten. Als wir am Morgen um 10 Uhr unsere Stadtbesichtigung an der Macquariestreet beginnen, stoßen wir zuerst auf die von Sträflingen 1819 gebauten Kirche St. James, die in den Anfängen ein Gericht war. Bauherr war ein gewisser Greenway, der als Gefangener, der Fälscherei überführt, nach Australien geschifft wurde und von dem für die Stadtentwicklung Sydneys enorm wichtigen 5. Govenor Macquarie mit der Errichtung mehrerer Steinbauten beauftragt wurde. Für einige Gebäude (z.B. das Gefängnis, heute ein Museum) in der Macquariestreet zeichnet er sich verantwortlich. In derselben Straße befindet sich das Rum-Hospital. (Kurioser Name!) Anfang des 19. Jahrhunderts wollten zwei Sydnier Bürger ein Monopol auf den Rumhandel erlangen, verbunden mit der Lizenzvergabe war das Versprechen, ein Hospital zu bauen: daher der Name. Die Straße hinter uns lassend streben wir durch den Royal Botanic Garden – es regnet in Strömen – den ehemaligen Pferdestallungen des Governors zu, die 1913 zum Conservatory of Music erkoren wurden und seit 2001 über einen genialen, komplett unter der Erde und dem Hügel des botanischen Gartens versteckten riesigen Neubau verfügen. Dann steht die Besichtigung der Oper an.