Der Birnbaum

Hochgewachsen und weithin sichtbar steht er an der der Straße zugewandten Seite des Obstgartens. Er gehört zum Dorfbild. In keinem anderen Anwesen gibt es einen so gesunden und prächtigen Birnbaum. Der Urgroßvater hat ihn gepflanzt und schon in der vierten Generation blüht er und trägt er Frucht. Die Kinder des Hoferben spielen, wie alle anderen vor ihnen, in seinem Schatten und freuen sich jeden Herbst über die "gute Graue", die von seinen robusten Zweigen ins Gras fällt. Erwachsen geworden, heiratete eines nach dem anderen, meistens in eine benachbarte Ortschaft, und gründete dort eine Familie.

Nur Christine, die Jüngste, lebte noch daheim bei den Eltern. Heute war ihr 19.Geburtstag. Sie hatte einen Tag Urlaub genommen und fuhr mit dem Auto in die Stadt, um ihren Arbeitskolleginnen einen selbstgebackenen Kuchen zu bringen. In einer Linkskurve merkte sie, daß der Kuchen, den sie auf den Rücksitz gestellt hatte, wegrutschte. Um zu verhindern, daß er herunterfiel, langte sie mit der Hand nach hinten. Dabei verriß sie das Lenkrad. Frontal prallte sie gegen einen Baum, wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und mit schwersten Verletzungen geborgen. Sie erwachte nicht mehr aus ihrer Bewußtlosigkeit. Nach zehn Tagen des Hoffens, Bangens und Betens gab der Vater seine Einwilligung zum Abschalten der künstlichen Lebenserhalter. Am Nikolaustag wurde Christine auf dem Dorffriedhof in das Grab ihrer Großeltern gebettet. Vater und Mutter zerbrachen fast an ihrem Schmerz.

Kurze Zeit danach tobte ein orkanartiger Sturm über das Dorf hinweg. Da und dort hat er Schaden angerichtet. Dem Birnbaum schlug er große Wunden. Mehrere dicke Äste waren abgerissen und lagen zerschmettert auf dem Boden. Ich erwartete, daß der Baum gefällt würde, so zerzaust wie er jetzt da stand, so einseitig und fremd. Ein paar Tage später sah ich voller Freude, daß der Vater die Wunden sorgfältig mit Wachs versiegelt und dem Baum, so gut es ging, durch Zuschneiden wieder eine Form gegeben hatte.

Als das  Frühjahr kam, zimmerte er eine Bank und rückte sie an den Stamm des Baumes. Still sitzt er da mit seiner Frau an lauen Abenden. Und wenn der Wind die jungen Blätter des alten Birnbaumes anrührt, ist es den beiden, als ob sie die Stimme ihres Kindes hörten, das vor Jahr und Tag in seinem Schatten gespielt hat.

11. April 1994