Der Kirschbaum ist abgeschnitten

Schon vor einigen Tagen habe ich von meinen Eltern erfahren, daß der Kirschbaum geschnitten werden soll. Es handelt sich um einen großen Süßkirschbaum im Garten meiner Kindheit und Jugend. Seit Herbst 1998 wohne ich dort nicht mehr. Und doch komme ich immer wieder mal vorbei. Eigentlich müßte ich endlich die Reste des Inhalts meiner Dachbude ausräumen und das Zimmer freigeben. Aber die Zeit dafür ist wie für viele Dinge immer recht knapp.

Den Kirschbaum kenne ich seit jeher. Er ist auch ein Teil meines Lebens. Doch seine Hoch-Zeit ist schon seit längerem vorbei. Wie wundervoll schmeckten seine Früchte, die schon Anfang Juli üppig an den vielen Zweigen seiner Äste hingen! Ich entsinne mich an ein Bild, das ich nie vergessen werde:

Wir Kinder mit Eltern im Frühsommer draußen an der Straße, die hohe Doppel-Holzleiter erklimmend, ernten die vielen Kirschen. Frau Haggenmüller und Frau Batz, zwei ältere Frauen, kommen vorbei, ratschen ein Weilchen, probieren eine Kirsche und machen sich wieder auf den Weg. Jedes Jahr war wie ein kleines Schlaraffenland-Erlebnis, wenn der Kirschbaum trug und abgeerntet wurde.

Doch auch zum Klettern lud der Baum ein. Es war (und ist wahrscheinlich) der einzige Baum, auf den ich mich hoch hinauf wagte und dessen Verlauf seiner Äste ich fast blind kannte. Nie bin ich herunter gefallen, und sogar als mein Vater einen sehr hilfreichen Ast im unteren Bereich absägte, konnte ich mich weiterhin hinaufhieven, um dort oben meine Blicke in die Ferne unserer Umgebung schweifen zu lassen.

Die Jahre vergingen, das Klettern kam mit dem persönlichen Körperwachstum nicht mehr in Frage, und auch die Leiter zum Ernten wurde nur noch selten aufgestellt - das letzte Mal im Juni/Juli 1987, wie ich mich erinnere.

Besondere Freude machte mir der Baum nochmals 1991, als ich Student und danach Lehrer war: Ich drehte einen Film über den Frühblüher "Die Süßkirsche" und setzte ihn einige Male in verschiedenen Klassen ein.

Und jedes Jahr holte ich mir noch eine Hand voll Kirschen, um den einzigartigen Geschmack dieser Früchte zu genießen. Ein Jahr ohne eine Kirsche aus dem Garten sollte es nicht geben. Auch nachdem ich weggezogen war, kam ich jedes Jahr zur Frühkirschzeit vorbei und kostete wenigstens eine Kirsche. Den Rest vertilgten die Vögel, die mich mit ihren schönen Gesängen dafür reichlich entschädigten, wie ich fand.

Heute wurde dieser wunderbare Baum abgeschnitten, der mich seit über 35 Jahren begleitete. Das nächste Jahr wird ein Jahr ohne eine dieser Kirschen sein. Ich möchte momentan gar nicht zu meinem Elternhaus kommen und male mir gerade aus, wie kahl und leer das Grundstück und wie nackt und bloß und groß das Haus erscheinen mag.

Vielleicht erwacht er zu neuem Leben und treibt junge Zweige aus seinem mächtigen Stamm, den meine Eltern in dieser Hoffnung übrig gelassen haben. Ein Stamm, der aus einem jungen Bäumchen wuchs, das mein Opa gepflanzt hat.

In meiner Erinnerung sehe ich unseren schönen Kirschbaum deutlich vor mir: Strahlend weiß blühend in unserem kleinen Garten mit uns Kindern spielend vor einem tiefblauen Himmel im Mai.

18. November 2003