Der Schäfer Sepp

Josef Anthofer, der Schäfer Sepp

An einem schönen Sommertag - ich war noch gar kein Schulkind - da hörten wir von draußen auf unserer Straße seltsamen Lärm. Wir stürzten zum Garten hinaus und sahen viele Tiere. Es waren Schafe, eine ganze Herde! Ein Mann mit Hut, Mantel (mitten im Sommer!), langem Stock und einem faltigen Hängerucksack führte den Zug an. Zwei schwarze große Hunde waren auch dabei. Schon sein wettergegerbtes, braunes, blinzelndes, aber unverkennbar spitzbübiges Gesicht war uns auf Anhieb sympathisch. Einem magischen inneren Trieb gehorchend schlossen sich mein Bruder und ich mich der Schafherde an. Ich weiß heute gar nicht mehr, wann wir uns vorstellten, doch schon bald wußte ich, daß dieser Schäfer Sepp hieß. Es war herrlich, viele Sommertage mit Sepp und seinen Schafen durch die Stadt zu ziehen; meistens ging es Richtung Hetschenweiher im Glacis. Die Tiere ließ Sepp oft auf den Wiesen beim Hubschrauberlandeplatz grasen. Währenddessen hatten wir oft Gelegenheit, einer Sensation beizuwohnen, wenn die Hündin “Hex” auf Sepps Kommando um den Platz jagte - und das in Rekordzeit! Doch es war vor allem die typische Art und Weise des Schäfers, die uns die Zeit verkürzte und uns mit Scherzen aller Art die Stunden eines ganzen langen Sommernachmittags versüßte. Viele Leute, die per pedes oder auf dem Fahrrad vorbeikamen, wurden lustig begrüßt oder hielten zum Plaudern an. Sepp kannte einfach alle. Und alle kannten den Sepp. Ich war damals gerade sechs Jahre alt, und so ist es nicht verwunderlich, daß ich mit der Zeit etwas lahmte, daß ich doch nicht so ausdauernd war wie mein älterer Bruder, der “Andal”. Oft brach ich meinen Besuch beim Sepp vorzeitig ab und begab mich wieder nach Hause, während Andal treu und willig bis zum Abend mit Sepp auf der Weide blieb. In dem Buben sah der Schäfer damals ernsthaft einen möglichen Nachfolger seiner Zunft.

Es war wieder an einem heißen und anstrengenden Sommertag. Ich wurde ungemütlich und verlangte schon seit einer ganzen Weile etwas zu trinken. Leider hatte Sepp nichts dabei, und die Geschäfte hatten bereits geschlossen. Da kamen wir an einem Bauwagen vorbei, wo sich die Bauarbeiter gerade nach Feierabend umzogen und nach Hause aufmachen wollten. Sepp erbettelte drei Flaschen Bier, nachdem er uns Buben gefragt hatte, ob wir eine Halbe packen. Natürlich bejahten wir, denn der Durst war inzwischen so groß, daß uns das Getränk ganz egal war - Hauptsache, es ist flüssig. Ich glaube mich zu erinnern, daß ich den eigenwilligen Bier-Geschmack schon früher bei meinem Vater durch weniges Nippen erfahren hatte, doch hätte ich niemals geglaubt, daß ein Getränk so schrecklich schmecken konnte. Natürlich wollte ich mir in dieser Situation nichts anmerken lassen und trank immer wieder aus dieser höllischen Flasche, wobei ich ich sicher die Hälfte davon in den Acker goß. Doch durch die Sommerhitze und nicht zuletzt auf Grund meines kindlichen Alters blieben die Folgen nicht aus: Wie leicht und beweglich plötzlich meine Füße wurden! Auch vor den scharfen schwarzen Hunden hatte ich keine Berührungsängste mehr und begann fröhlich torkelnd und lachend, die großen Tiere zu streicheln. Mehrmals sorgte sich Sepp um meine Sicherheit und befahl, ich solle doch meinen Übermut bremsen und den Kontakt mit den Hunden unterlassen. Aber es war offensichtlich: Der sechsjährige “Dammal” hatte einen Rausch. Es war der allererste.
Wie ich daheim empfangen wurde, weiß ich heute nicht mehr. Mir kam zu Ohren, daß sich meine Eltern über den Sepp sehr ärgerten und sich mit ihm über den Vorfall aussprachen. Indessen begleitete den Schäfer auch mein kleiner Bruder Florian, den Sepp ebenfalls in sein Herz geschlossen hatte, vor allem, weil er immer so viele “Grampf” machte.

Noch viele Jahre habe ich Sepp regelmäßig getroffen, auch am Tag vor meinem Latein-Abitur am 5.5.1989. Ich werde Sepps Worte nie vergessen, als ich ihm von meiner bevorstehenden Prüfung erzählte: “Des packst du scho.” Wie unerklärlich tröstend war dieser einfache Satz für mich.

Regelmäßig, meistens im Mai, traf ich Sepp oder suchte ihn auf. So liefen wir uns all die Jahre immer wieder über den Weg. Mittlerweile hatte ich meine Staatsexamina gemacht und war Lehrer geworden. Inzwischen trug es sich zu, daß ich beim Sepp auch meine Schüler traf, die ihn genauso wie ich damals auf der Weide besuchten.

Das letzte mal sah ich den Sepp im Spätsommer des Jahres 2000. Den Schäfer Sepp gibt es heute nicht mehr, doch er ist ein Teil meiner Kindheit und Jugend, den ich nie vergessen werde. So ging eine fast 25jährige Freundschaft zu Ende, die oft inmitten von Klee, Blumen und Kräutern immer wieder aufgefrischt wurde.