Warum ich keine
Lehrerin geworden bin

Seit meinem zehnten Lebensjahr sprachen meine Eltern davon, daß ich einmal Lehrerin werden sollte. Ich war damit einverstanden, zumal die damalige Direktorin der Lehrerbildungsanstalt mich recht gern hatte. Wenn sie in regelmäßigen Abständen mit ihren "Fräulein", wie wir Kinder die jungen Lehramtsanwärterinnen nannten, in unsere Klasse kam, war das für uns immer ein ganz besonderes Ereignis. Meistens durfte ich vorlesen, was ich flüssig, sicher und mit guter Betonung tat. Das gefiel Frau Berchmana. Es kam auch vor, daß ich allein ein Lied vorsingen mußte. Sie sagte dann jedesmal: "Die Gretel kommt einmal zu uns!"

Im Frühjahr des Jahres 1952 meldete mich mein Vati in der LBA an. Ich freute mich auf die neue Schule.

Seinerzeit war ich Turnerin und Leichtathletin beim TV Ingolstadt. Mit Vergnügen ging ich einmal wöchentlich ins Training; meine Leistungen waren recht gut. Sicher brachte mir der Umstand, daß ich eine begeisterte Schlittschuhläuferin war, beim Turnen viele Vorteile.

Am Sonntag, 3.6.1952, fuhren alle Turner und Leichtathleten des TV Ingolstadt nach Siegenburg/Holledau zu einem großen Sportfest. Ich mußte 100 m laufen und weitspringen. Das Schönste jedoch war für mich das in vielen Übungsstunden einstudierte Keulenschwingen, das wir Mädchen den Zuschauern nach den Klängen des Donauwellenwalzers frisch und anmutig darboten. Die meisten Wettkämpfe waren bis mittags abgeschlossen. Nun wurden die Ehren- und Siegerurkunden verteilt. Ich empfing die meine voller Freude und Stolz aus den Händen meines Trainers Herrn Schwaiger. Jetzt kaufte ich mir ein Erdbeereis und lief damit zu unserem Bus. Im selben Augenblick rannte ein Bub hinter dem Bus hervor und auf mich zu. Wir prallten mit großer Wucht Kopf an Kopf aneinander. Ich fiel auf den Boden und sah mein schmelzendes Erdbeereis rosarot im Staub zerfließen. Dann überfiel mich eine kurze Bewußtlosigkeit. Als ich daraus erwachte, erkannte ich das sorgenvolle Gesicht meines Trainers über mir. Ich wurde zu einem Arzt gefahren, in dessen Praxis mich Herr Schwaiger hineintrug. Irgendwo muß ein Spiegel gewesen sein, denn plötzlich sah ich auf meiner linken Stirnhälfte über dem Auge einen großen dunklen Flecken, der wie eine Mulde nach innen ging. Ein Teil meiner Hirnschale war zertrümmert! Eine unbeschreibliche Angst überkam mich und ich hörte mich immer wieder fragen: "Kann man das richten?" Der Arzt aus Siegenburg wollte mich in das dortige Krankenhaus zur Operation einweisen, weil der zersplitterte Knochen sofort entfernt werden mußte, um ein Eindringen ins Gehirn zu verhindern. Allerdings äußerte er große Bedenken; ein so schwieriger und gefährlicher Eingriff war hier noch niemals gemacht worden. Daraufhin beschlossen alle anwesenden Verantwortlichen des TV, mich flach liegend in einem Kleinbus in das 40 km entfernte Ingolstadt zu transportieren. Vier Turnerinnen, davon war eine die Habermeier Lisbeth, hielten mich auf ihren Knien, um so die Erschütterungen des Fahrens abzufangen. Während der ganzen Fahrt redete Herr Schwaiger mit mir. Der Arzt hatte es so angeordnet, denn ich sollte auf keinen Fall noch einmal das Bewußtsein verlieren. Erst später erfuhr ich, daß ich aus Mund, Nase und Ohren geblutet habe. Wieviel Zeit vergangen war, bis wir in Ingolstadt ankamen, weiß ich nicht, spürte aber, daß wir sehr langsam gefahren sind. Der Fahrer steuerte die Maul-Klinik an, die damals die Unfallklinik Ingolstadts war. Wegen Überbelegung wurden wir abgewiesen und zur Liebl-Klinik am Kreuztor geschickt. Das war Glück im Unglück, wie sich später herausstellen sollte.

Dozent Dr. Reiser, Chefarzt und erster Chirurg, nahm sich meiner sofort an und entfernte in einer dreistündigen Operation den zersplitterten Knochen, der durch ein erbsengroßes Stück Bienenwachs ersetzt wurde. Da ich nur örtlich betäubt war, hörte ich während der ganzen Zeit die Stimmen der Ärzte und Operationsschwestern. Ich war ganz ruhig. Heute weiß ich, daß es in diesen drei Stunden und auch in den folgenden neun Tagen um Leben oder Tod gegangen ist.

Meine Eltern, von Herrn Schwaiger benachrichtigt, standen weinend vor meinem Bett. Eine Ordensschwester hatte zu ihnen gesagt: "Sind Sie die Eltern von der Schwerverletzten? Da kann nur noch die Dreimal Wunderbare Mutter helfen".

Zehn Tage mußte ich flach und nahezu regungslos in meinem Bett liegen. Neben mir war ein etwas jüngerer Bub, er hieß Lenzerl und hatte Darmkrebs und bereits einen künstlichen Ausgang. Ich war voller Mitleid mit ihm. Mein Bett stand so, daß ich den Südturm der Oberen Pfarr durch das Fenster sehen konnte. Ein paar Meter unterhalb der Zwiebelhaube auf  einem Simsvorsprung hatte sich in luftiger Höhe ein kleiner Holunderstrauch angesiedelt, der jetzt, es war um den zehnten Juni herum, in voller Blüte stand. Vom ersten Morgenlicht, das durch das Fenster hereinkam, bis zum letzten Sonnenstrahl, der unser Krankenzimmer erhellte, war mein Blick fast unentwegt auf diesen kleinen Strauch gerichtet. Er war mir Frühlingsbote und Zeichen des Lebens und der Hoffnung. Ich wollte gesund werden!

Die Krise war vorüber, die gefürchtete Gehirnhautentzündung nicht eingetreten. Penizillin war der neue, wunderbare Wirkstoff, der mich nach ärztlichem Ermessen davor bewahrt hat. Und die Dreimal Wunderbare Mutter hat geholfen! Ich wurde in ein anderes Zimmer verlegt. Leider ängstigte mich dort eine Frau, die in selbstmörderischer Absicht Gift genommen hatte und sich in ihrer langen Bewußtlosigkeit Tag und Nacht im Bett aufbäumte und jämmerliche Laute ausstieß.

Nochmals wurde ich verlegt und sah nun mit fast heiterer Gelassenheit meiner Genesung entgegen. Ich bekam jetzt viel Besuch von meinen Freundinnen und Mitschülerinnen. Herr Schwaiger überraschte mich mit einem Kranz frischer Weißwürste, den er mir um den Hals hängte. Damals war das eine nicht alltägliche, rare Köstlichkeit.

Nach gut drei Wochen durfte ich die Klinik verlassen. Vati setzte mich auf den Gepäckträger seines Fahrrads uns schob mich heim, Mutti und mein Brüderlein Klaus begleiteten uns. Ich weiß nicht, wer am glücklichsten von uns Vieren war. Dozent Reiser hatte meinen lebensbedrohlich verletzten Kopf meisterhaft operiert und sogar noch darauf geachtet, daß ich nicht durch eine mitten durch die Stirn verlaufende Narbe entstellt wurde. Er öffnete meinen Schädel hart am Haaransatz und so ist die Narbe fast nicht zu sehen. Jedes Jahr am Hl. Abend besuchte ich ihn auf Geheiß meiner El-tern in seiner Praxis und brachte ihm ein kleines Geschenk. Da betastete er dann meinen Kopf, sah sich "seine" Narbe an und freute sich mit mir, daß ich gesund war und keine bleibenden Schäden hatte. Dieser gescheite feine Chirurg ist vor ein paar Jahren gestorben. Ich denke voller Dankbarkeit an ihn.

Vom Besuch einer höheren Schule und von einem längeren Studium hat er meinen Eltern allerdings dringend abgeraten. Ich sollte in keiner Weise überanstrengt werden. Auch durfte ich im Sommer 1952 nicht an die Sonne gehen und mußte ständig eine Kopfbedeckung tragen. Der Grund dafür war, daß das in meinen Kopf eingebrachte  Bienenwachs als Ersatz für den entfernten Knochen nicht schmelzen durfte. Es fiel mir nicht leicht, mich an all diese Verbote zu halten. Ganz besonders hart war der Winter 1952/53 für mich: Ich durfte nicht schlittschuhlaufen!

In die LBA ging ich nicht. Vati meldete mich dort wieder ab. Frau Berchmana hat mich, als sie mich zum erstenmal nach meinem Unfall wieder sah, in die Arme genommen und geweint. Von vielen Lehrkräften, Mitschülern und Kindern aus höheren Klassen habe ich in dieser Zeit Anteilnahme und Zuneigung erfahren. Sie alle haben für mich gebetet und mich mit kleinen Geschenken erfreut.

Nach der siebten Klasse Volksschule trat ich 1953 in die dreiklassige Mittelschule für Mädchen des Klosters Gnadenthal ein. Mit einem guten Abschlußzeugnis bewarb ich mich 1956 beim DONAU KURIER und wurde dort am 1.August 1956 als Anfangskontoristin in der Buchhaltung eingestellt.

Daß ich keine Lehrerin geworden bin, habe ich verschmerzt. Das Leben hat mir mehr gegeben als genommen. Ich habe alles erreicht!