Pfingsten im November

Seit Wochen war ich dabei, alle Unterlagen zu sammeln, die nötig waren, um für Frau Kaupe Pflegegeld zu beantragen. Heute sollte ich bei der letzten und entscheidenden Instanz, dem Sozialamt der Stadt Ingolstadt, vorsprechen. Nun stand ich vor der Türe von Frau E., die für die Bearbeitung von Pflegegeldanträgen zuständig ist. Neben mir saßen fünf Personen auf der Wartebank, die ebenfalls zu Frau E. wollten. Sie unterhielten sich verhalten in einer mir fremden Sprache. Es interessierte mich, zu erfahren, welcher Nationalität sie angehörten und ich fragte sie danach in der Hoffnung, daß jemand von ihnen Deutsch verstünde. Ein Mann mittleren Alters sagte mir darauf, daß sie Bosnier seien und da her kämen, "wo der Krieg das Land verbrennt." Die alte Frau neben ihm schlug beide Hände vors Gesicht und fing zu weinen an, auch den übrigen Familienmitgliedern traten Tränen in die Augen. Nun erfuhr ich, daß sie den Neffen, der schmächtig und blaß neben seinem Onkel saß, erst vor wenigen Tagen aus dem Kriegsgebiet geholt hatten, nachdem sein Vater beim Kriegseinsatz von Granaten zerrissen worden war. Die Mutter des Buben war mit den beiden sieben- und elfjährigen Brüdern in Zagreb zurückgeblieben. Nach dem Verlust des Ehemannes war sie verzweifelt darum bemüht gewesen, ihren zwanzigjährigen Sohn vor einer Einberufung zum Kriegsdienst zu bewahren und so sein junges Leben mit Hilfe ihrer in Ingolstadt lebenden Schwe-ster und deren Mann zu retten. Herr Grgic erzählte mir, daß er zwanzig Jahre als Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet und sich mit dem Ersparten in der bosnischen Heimat ein Haus gebaut habe. Nun sei alles ver-brannt und er habe nichts als sein Leben und das seiner Familie retten können. Vor einem Jahr war er mit Frau, Sohn und Tochter sowie Schwiegermutter nach Bayern geflüchtet und hatte in Ingolstadt Wohnung und Arbeit als Heizungsbauer gefunden. Jetzt fühle er sich für den vaterlosen Neffen verantwortlich.

Auf meine Frage, ob der Neffe einen Beruf erlernt habe, erzählte er mir, daß dieser Tischler sei und Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis habe. Er bräuchte halt jetzt Arbeit und wenn er nur als Tellerwäscher in einer Gaststätte unterkommen könne, wäre man schon zufrieden. Der Bub tat mir unendlich leid, er mußte innerhalb weniger Tage damit fertig werden, seinen Vater für immer verloren zu haben und seine Mutter mit den beiden kleinen Brüdern, die Heimat, die Freunde und alles, was ihm lieb und vertraut war, vielleicht für lange Zeit zu entbehren. Spontan drückte ich ihm einen Hundertmarkschein, den ich zufällig in meinem Geldbeutel hatte, in die Hand, mehr konnte ich im Moment ja nicht tun. Oder doch? Ich dachte an Richard Wittmann, den Schreinermeister aus Gaimersheim. Vielleicht konnte er weiterhelfen. Von Herrn Grgic ließ ich mir Adresse und Telefonnummer aufschreiben und versprach, anzurufen, falls ich für den jungen Mann eine Arbeit, vielleicht als Hilfskraft in der Schreinerei, finden würde.

In diesem Augenblick wurde ich in das Zimmer von Frau E. gerufen. Dort erfuhr ich, daß nach Prüfung der eingereichten Unterlagen aus verschiedenen Gründen ein Pflegegeld für Frau Kaupe nicht in Betracht käme. Viele Stunden Zeit, die mich das Zusammentragen der Unterlagen gekostet hatten, waren umsonst gewesen. Als ich etwas enttäuscht aus dem Zimmer wieder auf den Gang trat, streckten sich mir die Hände von fünf Menschen entgegen. Sie waren überwältigt von dem Geldgeschenk, das ich dem Buben zugesteckt hatte und von der in Aussicht gestellten Möglichkeit, daß ich für ihn vielleicht Arbeit finden würde. Wortlos, sie konnten ja meine Sprache nicht, doch voll inniger Herzlichkeit bedankten sie sich bei mir. Der abgelehnte Pflegegeldantrag bedrückte mich nicht mehr. Ich hatte durch das Wirken des Geistes auf eine andere Weise viel mehr erreicht, davon war ich überzeugt.

Seit 26.November 1992 arbeitet der junge Bosnier Duro  in einer Schreinerwerkstatt als Hilfskraft. Er ist fleißig, wie ich erfuhr, und zufrieden und glücklich. "Es ist warm in der Werkstatt," hat er seinen Verwandten erzählt.

Ich glaube, nicht nur in der Werkstatt sondern auch in den Herzen von fünf Menschen, die der Hölle des furchtbaren Krieges entkommen sind und denen ich mit Hilfe eines Schreiners ein wenig Hoffnung und den Glauben an das Gute vermitteln durfte.