Der Scherenschleifer

Als unsere Buben klein waren, habe ich ihnen regelmäßig die Haare geschnitten. Zwei Scheren hatte ich mir extra dafür gekauft - die eine zum kürzer schneiden, die andere zum auslichten der Haare. Besonders die Effilierschere war im Laufe der Zeit stumpf geworden und fast nicht mehr zu verwenden. Sie hätte dringend einen neuen Schliff gebraucht. Sobald jedoch ein Scherenschleifer an unserer Tür läutete und seine Dienste anbot, beschlich mich ein eigenartiges, ja ungutes Gefühl. Es fiel mir sogleich ein, was meine Mutter über diese Leute und ihr Tun zu mir gesagt hatte: "Beim Tag schaun sie sich die Häuser an und bei der Nacht kommen sie zum stehlen." Außerdem würden sie gelegentlich auch die ihnen anvertrauten Messer und Scheren nicht mehr zurückbringen. Aus diesem Grund kam ich seinerzeit mit keinem Scherenschleifer ins Geschäft.

Jahre später fragte eines Vormittags wieder ein Scherenschleifer bei uns nach ob es etwas zu schleifen gäbe. Diesmal überwand ich mein Mißtrauen und brachte ihm beide Haarschneidescheren an unseren Gartenzaun, vor dem er seinen Karren abgestellt hatte. Er versprach mir, sie in ungefähr zwei Stunden geschliffen zurückzubringen.

Nachmittags fuhr ich in die Stadt, auch unsere Buben gingen ihrer Wege und Josef war in der Spätschicht. Den Scherenschleifer hatten wir vergessen. Erst tags darauf, als wir zwei tadellos geschliffene Scheren in unse-rem Briefkasten fanden fiel er uns wieder ein. Wir warteten darauf, daß er vorbeikommen und seinen Lohn abholen würde, doch vergebens, er kam nicht.

Inzwischen sind mehrere Jahre vergangen und sooft ich die Scheren, die, wie mir scheint, noch nie so gut geschnitten haben wie jetzt, in meiner Hand halte, denke ich an den Scherenschleifer und wünsche mir, endlich meine Schuld begleichen zu können.

9. Mai 1996